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Episode

Norman Ohler // Literatur und Sachbuch

Der Stift, die Hand, das Papier

Norman Ohlers Buch „Der totale Rausch“ wurde aus dem Stand zu einem internationalen Bestseller, er beschreibt darin den Drogenmissbrauch in der Wehrmacht des „Dritten Reichs“. Sein neues Werk „Der stärkste Stoff“ erzählt die Geschichte des LSD. Viele seiner Bücher haben mit Rausch zu tun. Und schon das Schreiben mit der Hand ist für den Schriftsteller ein rauschartiges Erlebnis

Herr Ohler, wir pflegen gern die romantische Vorstellung, dass Schriftsteller auch heute noch mit der Hand schreiben. Trifft das auf Sie zu?

Ja, und zwar wegen Ulla Hahn.




Aber was hat die hochgelobte Lyrikerin und Schriftstellerin, Autorin von „Das verborgene Wort“ damit zu tun?

Sie hat vor langer Zeit einmal gesagt: Immer, wenn sie das Haus verlässt, hat sie einen kleinen Block dabei und einen Stift, um Gedanken und Ideen aufzuschreiben, die ihr zwischendurch kommen. Das habe ich als Zwanzigjähriger gelesen, das hat mich beeindruckt, und seitdem halte ich mich daran. 

Wann und wo machen Sie sich Ihre Notizen, nur außerhalb des Hauses?

Beim Sachbuch ist es angemessen, am Laptop die Sachen zusammenzutragen, das würde mit der Hand nicht so gut funktionieren, anders als bei den Romanen. Meinen Block nutze ich eher, wenn ich unterwegs bin und eine Inspiration habe. Diese Notizen tippe ich später ab. Ich bin leider nicht in der Position eines Peter Handke, der seine Manuskripte noch handgeschrieben abgibt.

Wenn ich mit der Hand schreibe, erschaffe ich andere Sätze als am Computer. Ich würde sagen: tendenziell bessere.“

Würden Sie gern ein Manuskript komplett handschriftlich verfassen?

Ja, auf jeden Fall. Ich plane einen Gedichtband, und den möchte ich unbedingt mit der Hand schreiben und genau so auch abgeben.


Warum?

Ich bin Romantiker und habe die Vorstellung und das Gefühl, dass ich mit der Hand anders schreibe als am Laptop, es ist schwer zu beschreiben, vielleicht kreativer, mutiger, unkonventioneller.

Wie integrieren Sie die Notizen in Ihren Alltag, und welche Materialvoraussetzungen braucht es dazu?

Der Block ist immer dabei, auch wenn ich schnell meinen Sohn vom Kindergarten abhole. Leider habe ich über all die Jahre kein stringentes System entwickelt. Es ist immer ein anderer Block, immer ein anderer Stift, das ärgert mich regelmäßig. Walter Benjamin hat gesagt, man sollte die größte Sorgfalt darauf verwenden, immer die richtigen Blöcke zu haben und immer die richtigen Stifte. Das habe ich noch nicht geschafft.

Wo zücken Sie Ihren Block,
wo kommt die Inspiration am ehesten?

Wo immer ich gerade bin, auf der Straße, in der Bahn, in der Natur. Früher habe ich sehr viel in Clubs geschrieben. Da bin ich stets misstrauisch beäugt worden, weil alle dachten, ich bin ein Zivilpolizist oder verrückt, aber durch das Tanzen kamen mir noch mehr Gedanken. Wie beim Sport: Da ist es gut, wenn man einen kleinen Block dabeihat, der in die Turnhose passt.


Was geschieht mit den Blöcken?

Die kommen in eine Schublade, wenn sie abgearbeitet sind. Ich streiche durch, was ich übertragen habe. Die können dann irgendwann alle mal in das Literaturarchiv nach Marbach (lacht).

Haben Sie für Ihre Blöcke Abkürzungen, Zeichen, die nur Sie verstehen?

Auf der Hamburger Journalistenschule habe ich einst von Wolf Schneider gelernt, wie man zeitsparend Notizen macht, Wörter wie Mensch etwa mit „M“ abkürzt. Wenn ich eine Sache später überprüfen sollte, vermerke ich „dok“ dahinter, für „Dokumentation“. Meine Handschrift ist schwer zu entziffern. Sollten die Blöcke jemals ins Literaturarchiv, muss ich wohl vorher noch die Kürzel aufschlüsseln...

Wann entstehen Ihre Sätze? Im Kopf – bevor sie zu Papier gebracht werden? Oder im Moment des Schreibens selbst?

Ich bin sehr impulsiv beim Schreiben, ich plane das nicht, sondern bei mir entsteht das beim Akt des Schreibens. Ich versuche, mich in einen anderen Zustand zu bringen, den man als eine Art Rausch bezeichnen könnte, wo dann ein bestimmter Schreibzustand vorherrscht und mich beherrscht. Und wenn ich mit der Hand schreibe, erschaffe ich andere Sätze als am Computer. Ich würde sagen: tendenziell bessere. Aber wahrscheinlich ist es so: Je mehr unterschiedliche Techniken man verwendet, desto größer die Bandbreite des Ausdrucks. 

Ich schreibe, wo immer ich gerade bin. Auf der Straße, in der Bahn, in der Natur. Früher habe ich viel in Clubs geschrieben.“

Welche Bedeutung hat Handschrift für Ihre Arbeit, die sich oft auf Originalquellen bezieht? Für „Der totale Rausch“ haben Sie etwa stapelweise handschriftliche Notizen von Theo Morell, dem Leibarzt Adolf Hitlers, lesen müssen.

Seine Schrift war teilweise schwerst zu entziffern. So eine Handschrift suggeriert eine größere Unmittelbarkeit und Nähe. Als Morells Notizen später digitalisiert wurden und ich nicht mehr die Originale einsehen konnte, habe ich gar nichts mehr gesehen, nichts mehr erkannt – und gedacht, wenn das von Anfang an so gewesen wäre, hätte ich das Buch vielleicht nie geschrieben. Erst durch die Handschrift konnte ich mir die Fakten und die Zeit erschließen. Vielleicht führt so ein Erlebnis auch dazu, dass ich selbst noch mehr Lust habe, handschriftliche Notizen zu machen.

Welches war Ihr eindrücklichster Schreibmoment in letzter Zeit?

Ich fahre gern ins Nietzsche-Haus, das Museum in Sils Maria in der Schweiz. Das ist ja auch ein Ort der Handschrift, Nietzsche hat immer behauptet, er habe alle seine Gedanken beim Spazierengehen in den Bergen notiert. Und ich empfinde größte Glücksmomente, wenn ich in den Bergen dort meinen Block zücke und mir Notizen mache. Ich bin letztens zu einem Gletscher gelaufen und habe gesehen, wie der Gletscher vor meinen Augen stirbt, das war sehr emotional, diesen Moment habe ich dort stehend in einem Gedicht festgehalten. Das funktioniert nur mit der Handschrift, schon deshalb, weil man in 3000 Meter Höhe keinen Laptop dabei hat für eine vierstündige Wanderung. Das war ein sehr besonderer und sehr bewegender Moment.

Norman Ohler

Der in Berlin lebende Schriftsteller veröffentlichte 2015 das Sachbuch „Der totale Rausch“. Gestützt auf bislang unbekanntes Originalmaterial, untersucht es die Rolle der Drogen im „Dritten Reich“ bei Wehrmacht und Adolf Hitler. Das Werk erregte weltweit großes Aufsehen und wurde in mehr als 30 Sprachen übersetzt. Norman Ohlers Roman „Harro und Libertas“ über die führenden Köpfe einer Widerstandsgruppe im „Dritten Reich“ erschien 2019. Seit Herbst 2023 erobert „Der stärkste Stoff. Psychedelische Drogen: Waffe, Rauschmittel, Medikament“ die internationalen Bestsellerlisten.


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Autor Rainer Schmidt

Rainer Schmidt ist Journalist, Schriftsteller und Gastgeber des Literatursalons „Writers’ Thursday“. Er hat für den BBC World Service in London gearbeitet, für das Zeit-Magazin und die Zeitschrift Spiegel Reporter. Danach war er stellvertretender Chefredakteur von Vanity Fair und Chefredakteur des Musikmagazins Rolling Stone in Berlin, wo er seit 2016 das vierteljährliche  „Frankfurter Allgemeine Quarterly“ Magazin leitet. Der passionierte Segler lebt mit seiner Familie in der Hauptstadt.