Episode
Martin Lotze // Gehirnforschung und Erkenntnis
Sinfonie der Synapsen
Martin Lotze ist Neurowissenschaftler, hat Menschen in Kernspintomografen gelegt und ihrem Gehirn beim Schreiben zugeschaut. In seinem Labor berichtet er, was er herausgefunden hat
Herr Professor Lotze, Sie sind Neuroradiologe. Das bedeutet, Sie scannen das Gehirn von Menschen, während sie denken. Schreiben Sie überhaupt noch mit der Hand?
Unbedingt. Allerdings zeichne ich mehr, als dass ich einen klassischen Fließtext formulieren würde. Es ist nämlich so, dass ich am Beginn einer Arbeit meine Gedanken ohne Stift und Papier wenig zu strukturieren vermag. Da ich sehr bildlich denke, steht vor jedem Vortrag oder Forschungsprojekt erst einmal eine Grafik. Ich beneide Menschen, die neuronale Prozesse mathematisch ausdrücken können; das ist bei mir jedoch nicht der Fall. Auch die Gliederung von Texten erstelle ich zunächst von Hand. Erst wenn diese Skizze auf Papier gebracht ist, denke ich an die Form der Umsetzung.
Pflegen Sie bei der Arbeit auf Papier Rituale? Muss es ein besonderer Stift oder ein bestimmtes Papier sein?
Gar nicht. Bei der Erstellung dieser Skizzen verwende ich den nächstbesten Stift, der auf meinem Schreibtisch liegt. Das sind zumeist Werbekugelschreiber, ich habe in dieser Hinsicht keine besonderen Präferenzen. Als Papier nehme ich auch einfach das, was ich gerade finde.
Ist das ein Ausdruck der unprätentiösen Art der Naturwissenschaftler?
Ich frage mich manchmal, ob wir manche Aspekte nicht etwas liebevoller pflegen sollten. Stattdessen trifft das Klischee des nerdigen Naturwissenschaftlers, der voll in einer Sache aufgeht und solche formalen Dinge eher vernachlässigt, durchaus auf viele Vertreter meines Faches zu.
Neurowissenschaft ist ein sehr digitales Fach. Ich kehre immer wieder zu Skizzen zurück. Ein weißes Blatt Papier birgt unbegrenzte Möglichkeiten.“
Ab einem bestimmten Punkt müssen Sie Ihre Skizzen aber schon auf einen Computer übertragen, oder?
Natürlich. Die Neurowissenschaft ist ein sehr digital ausgerichtetes Fach, und manche Kollegen oder Doktoranden erstellen ihre Grafiken direkt mit einer Software. Ich kehre hingegen auch bei der Ausgestaltung am Computer immer wieder zu der ersten Skizze zurück. Ein weißes Blatt Papier birgt fast unbegrenzte Möglichkeiten. Daher arbeite ich ungern an einem bereits vorformulierten Manuskript. Jede angelegte Struktur grenzt das Denken ein.
Was passiert mit den Skizzen, nachdem Sie sie digital übertragen haben?
Die handschriftlich erstellten Grafiken werden in einem Laborbuch archiviert, um zu einem späteren Zeitpunkt darauf zurückgreifen zu können. Dadurch kann ich mir bei Folgeprojekten vergegenwärtigen, wie die methodische Vorgehensweise ablief.
Sie beschäftigen sich in Ihrer Forschung auch damit, Gehirnaktivität zu untersuchen, während wir schreiben. Denken wir anders, wenn wir mit der Hand schreiben?
Das kann man mittlerweile bestätigen. Der Ausdruck begreifen ist in diesem Zusammenhang aufschlussreich. Denn das Hirnareal für das Ablegen von Bewegungskontexten wie das Schreiben oder das Vermitteln von Gestik überlappt sich stark mit dem Areal der Sprachproduktion. Durch das Freiwerden der oberen Extremitäten im aufrechten Gang hat sich evolutionär eine Gestik entwickelt, die für die Kommunikation entscheidend war und wohl den Beginn der Sprache darstellte. Auch die Ausformung von Buchstaben lässt sich in diesem Zusammenhang verorten.
Und wenn wir auf einer Tastatur tippen, dann aktivieren wir andere Hirnareale?
Zum Teil schon. Menschen mit großer Routine im Bedienen von Tasten können zwar ihren gedanklichen Fluss ohne Anstrengung auf die Tastatur bringen. Eine Integration zeichnerischer Elemente ist jedoch nicht nur weniger abstrakt, sondern hilft, umfassender zu denken. Der Raum auf dem Blatt Papier ermöglicht es uns, jenseits eines Flusses von Buchstaben zu denken. Wir können uns vom linearen Gedankengang hin zu einer Mind Map bewegen, deren Elemente auf verschiedene Weise untereinander verflochten sind. Diese Möglichkeit zur mehrdimensionalen räumlichen Darstellung ist dem Muster ähnlich, in dem sich unser Gedächtnis im neuronalen Geflecht der Nervenzellen verknüpft.
Das Gehirn von Menschen, die mit der Hand schreiben, arbeitet kreativer und effizienter.“
Das heißt, wir fördern diese Verknüpfungen, wenn wir mit der Hand schreiben?
Wir haben in Versuchen herausgefunden, dass sich unser Gehirn langfristig verändert, wenn wir diese Prozesse regelmäßig einüben. Durch dieses Einüben können dann leichter neue Variationen erstellt werden, die wieder neue Oszillationen ermöglichen. Ein von Aufmerksamkeit gesteuerter kreativer Flow entsteht.
Wie waren diese Studien angelegt?
In einer Kooperation mit dem Studiengang Kreatives Schreiben an der Universität Hildesheim haben wir das Gehirn von Studierenden in einem Kernspintomografen untersucht, während sie verschiedene Texte mit der Hand schrieben. Wir konnten zeigen, dass bei dieser Tätigkeit viele Hirnareale in einem komplexen Zusammenspiel aktiv sind, und zwar sowohl solche, die für Motorik und Sensorik zuständig sind, als auch die für das kreative Denken und Strukturieren. Durch Vergleichsstudien mit Teilnehmern, die nicht regelmäßig professionell schreiben, konnten wir zudem nachweisen, dass die Gehirnaktivitäten der Studierenden des Kreativen Schreibens anders vernetzt waren und deutlich effizienter arbeiteten. Wenn wir etwas regelmäßig einüben, prägen sich neue Pfade im Gehirn ein, die für Routinen und Automatismen sorgen. Darin unterscheidet sich das Schreiben nicht allzu sehr vom Klavierspielen.
Kann man also festhalten, dass uns das Schreiben mit der Hand beim Verstehen helfen kann?
Ja. Wir haben in weiteren Studien festgestellt, dass es Menschen leichter fällt, die großen Zusammenhänge eines Vortrags wiederzugeben, wenn sie diesem mittels handschriftlicher Notizen folgen. Mit der Hand zu schreiben, bedeutet zu be-greifen.
Martin Lotze
Prof. Dr. Martin Lotze ist Neurologe und Professor für Funktionelle Bildgebung des Gehirns an der Universitätsmedizin Greifswald. Zusammen mit der dortigen Neurologie und dem Literaturinstitut der Universität Hildesheim untersuchte er 2014 in einer groß angelegten Studie die Hirntätigkeit beim Schreiben mit der Hand. Dafür ließ er Studierende des Hildesheimer Studiengangs Kreatives Schreiben in einem MRT liegend an verschiedenen Textsorten arbeiten und konnte so die bei den unterschiedlichen Aufgaben aktiven Hirnregionen sichtbar machen.