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Episode

Alexa Hennig von Lange // Literatur und Geschichte

Aufschreiben, um loszulassen

Alexa Hennig von Lange stammt aus einer Familie von Chronisten. Die Großmutter diktierte ihre Lebensgeschichte auf Tonbänder. Der Großvater schrieb Tagebücher voll. Auch die Autorin schreibt alles, was wichtig ist, in Notizbücher. Um danach möglichst selten reinzuschauen

Frau von Lange, wie kommen Sie auf Ihre Ideen?

Wir haben fünf Kinder. Das bedeutet, ich räume jeden Tag auf, mache Betten oder koche. In diesen Momenten komme ich zur Ruhe – und oft taucht eine Hauptfigur auf. Sie beginnt zu reden, ich höre ihre Stimme, und das ist der Beginn einer neuen Geschichte.

Und dann?

Nehme ich den Topf vom Herd und mache mir Notizen.

Was schreiben Sie auf?

Ein Anfangsbild, die Umgebung, Situation, Atmosphäre, den ersten Satz. Dieser Satz steht meist für die gesamte Geschichte. Den kann ich mir nicht ausdenken. Der taucht einfach auf, und in dem Augenblick muss ich ihn zu fassen kriegen.

Warum ist der Anfang so wichtig?

Nichts liegt der Wahrheit eines Buches näher als die ersten Impulse: Gedankenfetzen, Dialoge, Schlüsselmomente, Zeitsprünge, Reflexionen, die emotionale Verfasstheit der Hauptfigur, ihre Lebenssituation. In diesen Impulsen steckt oft die Stimmung des gesamten Romans.

Geben Sie uns ein Beispiel?

Als ich vor drei Jahren anfing, meine Heimkehr-Trilogie zu entwickeln, hörte ich beim Kochen ganz plötzlich die Stimme meiner Hauptfigur Klara. Sie stieg 1929 aus dem Zug in Oranienbaum und stand auf dem freien Bahnhofsvorplatz, umgeben von Kiefernwald. Ich sah alles deutlich vor mir. In dem Moment wusste ich: Das ist meine Erzählerin. Ich notierte: „Bahnhof, 1929, Klara, leerer, sandiger Vorplatz, Kiefernwald“.

Alexa Hennig von Lange


Das Notizbuch ist die Heimat für meine Ideen, für die ursprünglichen Impulse.“

Was macht diese Notizen so wichtig?

Sie stehen für eine spezielle Empfindung. Ich muss später das Blatt nur anschauen und bin sofort in dem Gefühl, das ich zum Schreiben brauche. Wenn ich nicht in dieses Gefühl finde, kann ich die Geschichte nicht erzählen.

Was empfinden Sie beim Schreiben mit der Hand?

Freude. Den Schwung des Stiftes auf dem Papier zu spüren, zu sehen, wie die Worte beim Schreiben entstehen, die Leichtigkeit, mit der meine Hand über das Papier fliegt. Da empfinde ich echte Freude.

Das Aufzeichnen liegt bei Ihnen in der Familie. Ihre „Heimkehr-Trilogie“ basiert auf den Erinnerungen ihrer Großmutter.

Meine Großmutter hat ihr gesamtes Leben auf Kassette aufgesprochen, in hohem Alter, sehr detailliert – mehr als 130 Bänder, die von ihrer Kindheit in der Kaiserzeit bis in die Sechzigerjahre reichen. Wenn wir sie als Kinder in ihrem Reihenhaus in Oldenburg besuchten, haben wir sie oft in ihrem blauen Sessel sitzen sehen, mit Kassettenrekorder und einem Mikrophon in der Hand.

Sie schrieb nicht?

Meine Großmutter war damals schon blind.

Wann haben Sie die Aufzeichnungen abgehört?

Erst Jahre später als ich erwachsen war. Meine Großmutter war eine strenge, distanzierte Frau. Als Kind konnte ich mir nicht vorstellen, dass das, was sie da erzählte, interessant sein könnte. Als ich dann in die Bänder reinhörte, lernte ich sie neu kennen, entdeckte den Menschen, den ich als Kind nicht sah. Ich wusste schnell, dass ich daraus Bücher schreiben würde.

Ihr Großvater hat ebenfalls Aufzeichnungen gemacht?

Er führte über Jahrzehnte exzessiv Tagebuch. Auch seine Aufzeichnungen habe ich für die Trilogie verwertet. Er beschrieb die Seiten eng mit Tinte, strich einzelne Worte durch, besserte nach, mit rotem Buntstift. Es war seine Art, sich nachträglich zu vergewissern, wer er im Geschehen gewesen war.

Wie unterscheiden sich Tonaufzeichnung und Tagebuch?

Meine Großmutter hat in ihren Aufzeichnungen eher die äußere Welt geschildert, das Wetter, Vegetation, Einrichtung, Kleidung. Mein Großvater beschrieb eher die innere Welt.

Und was halten dagegen Sie fest?

Ich benutze Notizen, um meine Eingebungen vor dem Zerdenken zu schützen. Ich hole sie aus meinem Kopf aufs Papier, so schütze ich das Ursprüngliche, die Essenz. Ich notiere meine Ideen, damit ich sie anschließend vergessen kann. Der Verstand ist ein enorm fähiges Werkzeug, aber eben auch ein sehr zerstörerisches.

Wie meinen Sie das?

Ich kann meine Bücher nur schreiben, wenn ich sie nicht groß plane. Ich weiß vorher nie, wie sie enden. Die Notizen sind Leuchttürme, sie halten mich, wenn nötig, auf der Spur. Den Weg durch die Handlung erforsche ich erst beim Schreiben: wenn ich die Landkarte der Ereignisse auch emotional durchlebe. So bleibt das Erzählen lebendig, ursprünglich, überraschend.

Ich muss später eine Notiz nur anschauen und bin sofort in dem Gefühl, das ich zum Schreiben brauche.“

Benutzen Sie für jeden Roman ein eigenes Notizbuch? 

Nein. Ich benutze meine Notizbücher für alles Mögliche. Auf einer Seite stehen Ideen für einen Roman, dahinter kann eine Einkaufsliste stehen, ein Hinweis für die Steuererklärung oder Namen der Freunde, die meine Kinder zum Geburtstag einladen wollen. Das Notizbuch soll kein Kunstwerk werden, lieber der Roman. 

Gibt es immer nur ein aktuelles Notizbuch? 

Nein, es gibt mehrere und ich habe immer eines in meiner Nähe. Aber ich benutze auch schon mal einen geöffneten Briefumschlag. Oder die Rückseite einer Zeichnung meiner Kinder – und lege sie später heimlich ins Notizbuch.

Was passiert, wenn Sie so ein Buch verlieren?

Das wäre eine absolute Katastrophe. Das Notizbuch ist die Heimat für meine Ideen, für die ursprünglichen Impulse. Und die sind unwiederbringlich und wertvoll, weil aus ihnen alles entsteht.

Wie hüten Sie Ihre Notizbücher?

Ich werfe sie nicht weg, aber ich sortiere sie auch nicht. Sie stehen einfach im Regal. Wenn mir beim Aufräumen durch Zufall eins in die Hand fällt, kann es passieren, dass ich darin blättere. Immerhin erzählen sie davon, was für mich zu einer bestimmten Zeit wichtig war, sie geben Aufschluss über mein Leben. Aber ich benutze sie nicht zum Abgleich mit dem Menschen, der ich heute bin.

Warum nicht?

Weil auch heute wieder neue, spannende Dinge passieren, die ich notieren kann.

Alexa Hennig von Lange Portrait

Alexa Hennig von Lange

Alexa Hennig von Lange, 1973 in Hannover geboren, begründete mit ihrem Debütroman „Relax“ Ende der Neunziger Jahre die Popliteratur in Deutschland und wurde auf einen Schlag zur Bestsellerautorin und zu einer der wichtigsten Stimmen ihrer Generation. Seitdem hat sie mehr als 25 Romane veröffentlicht, die in zahlreiche Sprachen übersetzt wurden. Sie schrieb Theaterstücke für die Berliner Volksbühne, das Junge Theater Göttingen und das Schauspielhaus Hannover. Für ihren Roman „Ich habe einfach Glück“ erhielt sie den Jugendliteraturpreis. Zuletzt erschien im Dumont-Verlag die „Heimkehr“-Trilogie, die an die Lebenserinnerungen ihrer Großmutter angelehnt ist. Die Autorin lebt mit ihrem Mann und ihren fünf Kindern in Berlin.



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Autor Marcus Jauer

Autor Marcus Jauer 

Marcus Jauer ist Journalist und hat als Reporter für die „Süddeutsche Zeitung“ und im Feuilleton der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ gearbeitet. Zusammen mit Maja Göpel verfasste er den Bestseller „Die Welt neu denken“. Er arbeitet als freier Autor für „Die Zeit“ und lebt mit seiner Familie in Berlin.